Kolumne "Zur Sache"

Komplexe Krisen und das Klima der Unsicherheit

Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Universität Hamburg

Das Jahr 2015 hat Krisen wie am Fließband sichtbar gemacht. Ukraine, Griechenland, Syrien, Irak, Afghanistan, Mali, Paris, Köln: Dies sind nur einige der Brennpunkte, an denen sich destruktive Entwicklungen entluden. Damit verbunden sind Flüchtlingskrisen und Umweltkatastrophen wie Stürme, Überschwemmungen und Dürren, die mit dem Klimawandel in Zusammenhang gebracht werden. Steht die Welt am Abgrund?

Die ganze Welt vielleicht (noch) nicht, aber in den betroffenen Regionen tun sich Abgründe auf. In den vielfach beschworenen „Hot Spots“ gibt es ein Geflecht stark vernetzter und schwer lösbarer Problemfelder: Armut und Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung, Krankheit und Seuchen, Gewalt und Kriminalität, Migration und Flucht, Umweltrisiken und Klimawandel. Vielfach sind Kettenreaktionen und Risikokaskaden zu beobachten, durch die Krisen in einer Region oder einem Problemfeld auf andere ausstrahlen wie bei einer Infektion. Dabei ist der Klimawandel Teil des Problem-Nexus, ohne dass eine direkte Kausalität leicht nachweisbar ist.

Dies kann an der Megakrise in Syrien verdeutlicht werden, bei der wie in einem Brennglas viele Ursachen und Folgen zusammen kommen. In den Jahren vor der Rebellion litt das Land unter verheerenden Dürren, die die Wasserversorgung und Landwirtschaft trafen und die Lebensbedingungen beeinträchtigten, wodurch viele Menschen entwurzelt und vertrieben wurden. Zwischen 2002 und 2010 sank der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Syrer auf weniger als die Hälfte, was auch demografische Gründe hat. Hinzu kamen mehr als 1 Million irakischer Flüchtlinge, die nach der US-Invasion in 2003 geflohen waren. Ethnische, religiöse und soziale Spannungen nahmen zu, Gesundheits- und Sozialsysteme gerieten unter Druck, Infrastruktur und Versorgungsnetze wurden überlastet, ohne dass die Assad-Regierung angemessene Gegenmaßnahmen ergriff. Die schon zuvor bestehende Unzufriedenheit mit dem Regime, gerade bei der jungen Bevölkerung, eskalierte im Gefolge des arabischen Frühlings, dessen Ursprünge mit Brotunruhen durch gestiegene Lebensmittelpreise zur Jahreswende 2010/2011 in Zusammenhang gebracht wurden. Neben anderen Faktoren (Ölpreis, Landkonkurrenzen, Börsenspekulationen, Nahrungsbedarf) hatten auch Wetterextreme einen Einfluss auf die Getreidepreise, etwa die Hitzewellen in Russland und Zentralasien im Sommer 2010 oder die Dürre in China 2010/2011. Die Serie von Protesten gegen autokratische Regierungen in der arabischen Welt, beschleunigt durch elektronische Medien und soziale Netzwerke, führte zu einem Flächenbrand, der die ganze Region erfasste und viele Regime stürzte.

In Ländern wie Libyen und Syrien entwickelte sich ein brutaler Bürgerkrieg. Dieser zog in Syrien, im Mächtespiel Irans und Saudi-Arabiens, radikale islamistische Gruppen wie den „Islamischen Staat“ aus dem destabilisierten Irak ebenso an wie militärische Interventionen durch Russland, die Türkei und westliche Staaten. Millionen entwurzelter Syrer verbanden sich mit einem Flüchtlingsstrom aus den fragilen Gesellschaften Afrikas und des Nahen Ostens. Angelockt auch vom Glücksversprechen des Westens, machten sie sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer, durch das geschwächte Griechenland und die offene Balkanroute ins Zentrum Europas und setzten hier medial verstärkt politische Auseinandersetzungen in Gang. Zusammen mit den Terrorangriffen auf Paris und anderswo, rechtspopulistischen Strömungen, den Krisen in Südeuropa und den zentrifugalen Tendenzen in Osteuropa bis zur Ukraine steht die Stabilität Europas auf dem Spiel.

Was wie ein Extremszenario eines Think Tanks erscheint, ist tatsächlich geschehen. Vieles hatte sich schon vorher abgezeichnet und wurde in verschiedenen Studien zur Hot-Spot-Analyse als Möglichkeit in Erwägung gezogen. Dabei spielt auch der Klimawandel eine Rolle, doch diesen klimadeterministisch für alle Weltprobleme verantwortlich zu machen, geht am Kern des Problems vorbei. In derart komplexen Krisen kommen viele Faktoren zusammen, damit der Kipp-Punkt überschritten wird, was dann wie in einer Kettenreaktion weitere Folgen mit sich bringt. Das Fass zum Überlaufen bringt nicht erst der letzte Tropfen, sondern auch alle davor.

Was überrascht, ist die Geschwindigkeit und Intensität der Ereignisse und wie wenig Politik darauf vorbereitet war. Statt immer hastigeres und wirkungsloseres, wenn nicht gar Problem-verstärkendes Krisenmanagement zu betreiben, ist es wichtiger, die Zeichen der Zeit rechtzeitig zu erkennen und die Ursachen zu bearbeiten, die viel mit unseren eigenen Lebensstilen, Wirtschaftsstrukturen und Politikmustern zu tun haben. Der Klimavertrag von Paris ist hier ein Hoffnungsschimmer, dass eine konstruktive Wende möglich ist. Die Frage ist, wie durch neue Netzwerke eine kritische Masse erreicht werden kann, die eine Kettenreaktion in Richtung auf eine große Transformation für Frieden und nachhaltige Entwicklung in Gang setzt.

Prof. Dr. Jürgen Scheffran

Jürgen Scheffran lehrt am Institut für Geographie der Universität Hamburg und leitet im Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit die Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit der Exzellenzinitiative zur Klimaforschung in Hamburg.
(12.02.2016)

Foto: Ausserhofer

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