Kolumne "Zur Sache"

Permafrost: Die große Unbekannte im Klimasystem der Erde

Prof. Dr. Guido Grosse, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

In den 1830er Jahren wurde ein Schacht in den Boden der sibirischen Stadt Jakutsk gegraben, um Grundwasser für die Bürger der Stadt zu finden. Der Naturforscher Karl Ernst von Baer führte damals Temperaturmessungen in dem insgesamt 116,7 Meter tiefen Schacht durch, die anzeigten, dass der Boden unterhalb einer dünnen aufgetauten Schicht über die gesamte Tiefe hinweg gefroren war. Der Begriff des dauergefrorenen Bodens oder Permafrost entstand – und blieb für Jahrzehnte ein wissenschaftliches Randphänomen der Polarregionen, über das wenige Gelehrte diskutierten.

Erst mit der Expansion des sich industrialisierenden Russlands nach Fernost und dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn am Ende des 19. Jahrhunderts entstand umfangreiches Spezialwissen über den Dauerfrostboden. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts gerieten die arktischen Permafrost-Regionen ins Zentrum des geopolitischen Interesses. Die geologischen und militärischen Dienste der Arktis-Anrainerstaaten schickten Naturwissenschaftler und Ingenieure ins Rennen, um die riesigen und fast unbewohnten Regionen zu erkunden, deren Potential als Rohstoffquelle zu erschließen, und ihre Rolle als möglicher Schauplatz des Kalten Krieges zu klären. Vor allem aber wuchs in diesen Jahrzehnten das Verständnis, dass der Permafrostboden von großer Bedeutung für arktische Ökosysteme ist. Und dass Permafrost sich durch wärmeres Klima verändert – genauso wie durch menschengemachte Störungen des Temperaturregimes an seiner Oberfläche, so dass am Ende der Dauerfrost weit weniger permanent ist als gedacht.

Permafrost ist ein Ergebnis des kalten Klimas in den Polarregionen und Hochgebirgen. Seine stellenweise große Tiefe von mehreren hundert Metern bis maximal 1,6 Kilometern in Sibirien ist ein Überrest der Eiszeit. Ein Viertel oder knapp 23 Millionen Quadratkilometer der Landflächen der Nordhalbkugel sind heute Teil der Permafrostregion, hat die Internationale Permafrost Assoziation mit ihrer ersten arktisumspannenden Karte im Jahr 1997 berechnet. Dies entspricht etwa dem 66-fachen der Fläche Deutschlands. Dazu kommt noch Permafrost in den submarinen Ablagerungen der ausgedehnten flachen arktischen Schelfmeere, die während der letzten Eiszeit wegen des tieferliegenden Meeresspiegels zum Land gehörten und im harschen Eiszeitklima tief durchgefroren wurden.

In vielen Regionen besteht der Permafrost aus Sedimenten, die während jahrtausendelanger Ablagerungsprozesse nach und nach eingefroren wurden. Winterliches Zusammenziehen und Aufreißen der Permafrostböden in der arktischen Kälte erzeugt Frostrisse, die sich im Frühjahr mit Schmelzwasser füllen und so über Jahrtausende hinweg Eis in der Form von Eiskeilen akkumulieren können. Im Norden Sibiriens und Alaskas enthält der Untergrund oft zum Teil weit über 70 Prozent Eis. Das Bodeneis macht den Permafrost dort sehr anfällig für schnelles Auftauen, wo es einmal durch Erosion (Thermo-erosion) oder tieferes sommerliches Tauen (Thermokarst) erreicht wird. Beim Tauen senkt sich die Landoberfläche unregelmäßig ab und in der Folge ändern sich Hydrologie, Vegetation und auch biogeochemische Wechselwirkungen der tauenden Böden.

Aber was geht uns das an, wenn sich in den unbewohnten arktischen Küstenebenen der Boden absenkt? Ein besonderer Aspekt des Permafrost bereitet uns Klimaforschern Sorgen. In den kalten, nur sommerlich an der Oberfläche auftauenden Böden der Arktis sammelten sich zum Teil schon seit der letzten Eiszeit neben den Überresten der Mammutfauna große Mengen abgestorbenes Tier- und Pflanzenmaterial, welches im Dauerfrostboden hervorragend konserviert wurde. Als Forscher in den 1990er Jahren erste Hochrechnungen dieser sehr langsamem Akkumulation organischen Kohlenstoffs auf die langen Ablagerungszeiträume und riesigen Ausmaße einer speziellen Permafrostregion in Nordostsibirien übertrugen, war die Forschergemeinde deutlich überrascht. Plötzlich tauchte hier ein riesiger natürlicher Kohlenstoffspeicher aus den Kalkulationen auf, der mit etwa 450 Milliarden Tonnen Kohlenstoff (Gt C) viele andere Kohlenstoffspeicher auf der Erde in den Schatten stellte.

Die internationale Forschergemeinde wurde hellhörig und in den kommenden Jahren explodierte die Anzahl der Studien zum Permafrostkohlenstoff. Weitere Studien belegten, ja erhöhten sogar die Schätzungen. Grund dafür ist die Erforschung weiterer Permafrostregionen, mehr Felddaten und neue Methoden sowie räumliche Analysewerkzeuge, die die Skalierung verbessern. Ein Teil dieses Kohlenstoffs befindet sich in den kalten, aber sommerlich auftauenden oberen Bodenschichten, ein weiterer Teil befindet sich darunter im ganzjährig gefrorenen Untergrund. Die  derzeit aktuellste Schätzung zum Kohlenstoffspeicher der Permafrostregion liegt bei 1330-1580 Gigatonnen Kohlenstoff. Er könnte aber auch weit über 2000 Gigatonnen Kohlenstoff umfassen, wenn man die schon genannten, aber nur mit wenig quantitativen Daten unterfütterten Permafrostablagerungen auf den flachen arktischen Schelfen, die ebenfalls die gleichen terrestrischen Pflanzenreste enthalten, hinzurechnet.

Dies ist alles Kohlenstoff, welcher der Atmosphäre über Jahrzehntausende entzogen wurde, und entspricht fast der doppelten Menge Kohlenstoff, die wir heute in unserer Atmosphäre haben (ca. 866 Gigatonnen Kohlenstoff). Was passiert mit diesem zum Teil Jahrzehntausende alten, gut erhaltenen Kohlenstoff in einer wärmer werdenden Welt?

Wir leben in einer Warmzeit, die durch den menschlichen Einfluss, insbesondere den Verbrauch fossiler Brennstoffe, immer wärmer wird – besonders schnell in der Arktis, wie stations- und satellitengestützte Beobachtungen der letzten Jahrzehnte unanfechtbar deutlich zeigen. Einige Regionen der Arktis haben sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts schon um bis zu 3 Grad Celsius erwärmt. In Paris wurde 2015 auf der COP21 beschlossen, dass die globale Erwärmung auf einen mittleren Wert von deutlich unter zwei Grad Celsius begrenzt werden muß, um Folgerisiken des Klimawandels zu minimieren. Was bedeutet ein globaler Temperaturmittelwert für eine Region wie die Arktis? Aktuelle Klimamodelle für das kommende Jahrhundert sagen eindeutig vorher, dass der Klimawandel besonders stark und schnell in der Arktis vonstatten gehen wird, wir sprechen von arktischer Verstärkung. Rückkopplungseffekte durch die Dezimierung stark reflektierender Schnee- und Eisflächen verursachen einen dramatischen Wandel, den jeder langjährige Arktisbewohner oder -besucher klar sehen kann und der von Messungen aller Art belegt wird.

Dunkler werdende Meeres- und Landoberflächen der Arktis führen zu zusätzlicher Erwärmung und damit dünnerem Meereis, kürzerer Schneebedeckung, schwindenden Gletschern und deutlich höheren Temperaturen in der Luft. Dies wirkt sich auch auf den noch gefrorenen Untergrund aus. Schon heute zieht sich Permafrost nachweisbar aus einigen Regionen, wie zum Beispiel Westsibirien oder im borealen Kanada, zurück.

Welche Rolle spielen also Permafrost und der in diesen Regionen gespeicherte Kohlenstoff für das Erdsystem und unser langfristiges globales Klima? Modelle sollten diesen wichtigen Kohlenstoffspeicher abbilden können, um die Rolle von tauendem Permafrost für unser Klima vorherzusagen. Leider sind wir davon noch weit entfernt. Keines der im letzten IPCC-Report benutzten Modelle hat den Permafrostkohlenstoffspeicher und sein beginnendes Auftauen berücksichtigt. Der Boden als Kohlenstoffspeicher in den Modellen ist nicht auf die arktischen Böden mit ihren besonderen Eigenschaften angepasst. Die Modelle haben große Schwierigkeiten, die komplexen, oft nicht-linear ablaufenden mit Permafrosttauen zusammenhängenden Prozesse nachzubilden.

Ein neues quantitatives Verständnis von Prozessen von der mikrobiellen bis hin zur Landschafts-Skala ist nötig. Und 23 Millionen Quadratkilometer sind eine große Fläche, die es zu beobachten gilt. Räumliche Daten zur Verbreitung von tauendem Permafrost und von damit zusammenhängenden Kohlenstoffflüssen in der Region sind noch rar, werden aber verstärkt mit Fernerkundungsmethoden und Big Data-Ansätzen gewonnen. Vereinfachte Modelle lassen einen wichtigen Beitrag von tauendem Permafrost zu globalen Emissionen von Kohlendioxid und Methan erwarten und damit einen verstärkenden Rückkopplungseffekt der Klimaerwärmung. Wir müssen uns fragen, was dieses Permafrost-Kohlenstoff-Feedback für die COP21-Ziele bedeutet, auch über das 21. Jahrhundert hinaus. Das Ausmaß des Problems muss erkannt werden, um über realistische Lösungsansätze nachzudenken.

Prof. Dr. Guido Grosse ist gemeinsam berufener Professor für Permafrost im Erdsystem an der Universität Potsdam und dem Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung. Er leitet das ERC Projekt PETA-CARB und wird im September 2016 die Leitung der Sektion Periglazialforschung des AWI übernehmen. Er hat von 2006 bis 2013 in Alaska gelebt und miterlebt, wie der Klimawandel Permafrostregionen verändert.

(15.6.2016)


Bildnachweis: © Alfred-Wegener-Institut/Sina Löschke

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