Um Emissionsminderungen zu erreichen, die es erlauben würden, so nah wie möglich am Pariser 1.5 °C Klimaziel zu bleiben, sind technologische Innovationen allein nicht ausreichend. Dieser Befund wurde von dem EU-geförderten Forschungsprojekt „EU 1.5° Lifestyles“ erneut bestätigt. Das Projekt rückt daher den notwendigen Wandel von Lebensstilen in den Fokus und erforscht die Bedingungen, unter denen er ermöglicht werden kann.
Ein Editorial von Prof. Doris Fuchs, PhD, Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) – Helmholtz Zentrum Potsdam & Universität Münster
Unter Lebensstilen werden meist individuelle Entscheidungen über die Gestaltung der Lebensführung verstanden: Was wir wie und warum konsumieren, scheint eine Frage persönlicher Vorlieben zu sein. Dabei wird übersehen, dass unsere alltäglichen Konsumentscheidungen in gesellschaftliche Strukturen eingebettet sind. Diese geben den Rahmen vor, welche Produkte verfügbar sind, wie sie hergestellt wurden und inwiefern ihr Konsum als wünschenswert gilt. Entsprechend haben sich die politisch geläufigen Appelle an das „grüne Gewissen“ der Konsument:innen auch bisher nicht in einem grundlegenden Rückgang von CO2-Emissionen oder anderen Ressourcenverbräuchen niedergeschlagen.
Lebensstilveränderungen in allen Bereichen sind aber unverzichtbar, wenn wir nicht zu weit über das 1.5 °C-Ziel hinausschießen und auf die Vielfalt ökologischer Krisen reagieren wollen. Dabei müssen sowohl viele kleine Änderungen umgesetzt werden als auch Maßnahmen, durch die jeweils besonders viele Emissionen eingespart werden können. Dafür ist es dringend geboten, über den Tellerrand individualisierter Verhaltensänderungen hinauszuschauen und die strukturellen Hürden in den Blick zu nehmen, die einem Wandel von Lebensstilen im Weg stehen.
Eine der wirkmächtigsten strukturellen Hürden sehen die hierzu befragten internationalen Expert:innen in dem undifferenzierten Streben nach (quantitativem) Wachstum in allen ökonomischen wie gesellschaftlichen Bereichen. Ein weiteres relevantes Problem ist der politische Einfluss von Partikularinteressen, die heute vom nicht-nachhaltigen Status quo profitieren. Das zeigt sich beispielsweise im Fortbestehen umweltschädlicher Subventionen, etwa für Kerosin oder Diesel. Der erforderliche Wandel wird weiterhin erschwert durch inkohärente und zu schwache politische Maßnahmen sowie die weiter bestehenden Möglichkeiten, soziale und ökologische Kosten zu externalisieren, also auf die Gesellschaft umzulegen, während die Gewinne privat einbehalten werden. Insgesamt zeigt sich die Macht dieser strukturellen Hürden im Versagen von Politik und Gesellschaft, unsere Konsum- und Versorgungssysteme substanziell nachhaltiger zu gestalten, obwohl einige notwendige konkrete Veränderungen seit langem bekannt sind.
Die Chance, tatsächlich eine nachhaltige Zukunft zu gestalten, besteht aber nur, wenn diese Transformationsbarrieren reduziert bzw. überwunden werden. Das ist eine große Herausforderung, für die ein Fokus auf gemeinschaftliche Verantwortung und auf sozial-ökologische Gerechtigkeit erforderlich ist.
Eine wesentliche Bedingung ist daher, Nachhaltigkeitsstrategien grundsätzlich mit einer Gerechtigkeitsperspektive zu verbinden. Das ist auch unerlässlich, um populistischen Strategien des Gegeneinander-Ausspielens von Interessen und Belangen entgegenzuwirken. Es gilt, die vielfältigen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten des Status Quo hervorzuheben, etwa den übermäßigen CO2-Ausstoß durch die Konsummuster reicher Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitiger Vergesellschaftung der Kosten des Klimawandels. Diese Ungleichverteilung der Verantwortung für den Klimawandel legitimiert unterschiedliche Veränderungsgebote für verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Gleichzeitig sollten die Potenziale struktureller Veränderungen für das gesundheitliche, emotionale und soziale Wohlergehen auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene hervorgehoben werden. Politische Ungleichheiten müssen ebenfalls sichtbar gemacht und abgebaut sowie politische Teilhabe durch Möglichkeiten der wirkungsvollen und inklusiven Partizipation, etwa in mandatierten Bürger:innenräten, gefördert werden. Ein Ziel hier wäre ein neuer ökologisch-sozialer Gesellschaftsvertrag, der uns die Freiheit gewährt, gemeinsam, demokratisch und sozial gerecht Klima- und andere Nachhaltigkeitsziele zu verfolgen. Seiner Umsetzung könnten gerechtigkeitsorientierte ökologische Instrumente wie Konsumkorridore oder Kohlenstoffbudgets dienen.
Die zweite Bedingung ist die Organisation gemeinsamer Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft. Aktuell ist kaum etwas deutlicher zu beobachten als ein „Verantwortungs-Ping-Pong“ zwischen den relevanten politischen Akteuren wie auch Unternehmen und Verbraucher:innen. Statt hin- und hergeschoben zu werden, muss Verantwortung für die Ermöglichung nachhaltiger Lebensstile wirksam geteilt und übernommen werden. Übergreifende Allianzen von Akteuren, insbesondere von sozial und ökologisch orientierten zivilgesellschaftliche Bündnissen, aber auch Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, wären eine wichtige Basis dafür.
Der Bedarf für Veränderungen im individuellen Konsumverhalten, aber auch für strukturelle Reformen, die Dringlichkeit der Veränderung und die Notwendigkeit öko-sozialer Strategien müssen thematisiert werden. Dabei gilt es insbesondere, die konkreten Möglichkeiten und Vorteile einer gemeinschaftlichen Gestaltung positiver Zukünfte in der breiten Gesellschaft sichtbar zu machen.
Mehr zum Forschungsprojekt.
Zur Autorin:
Prof. Doris Fuchs, PhD, ist Direktorin am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) - Helmholtz Zentrum Potsdam und Professorin für Nachhaltige Entwicklung an der Universität Münster. Ihre Forschung widmet sich Fragen zum Verhältnis von Demokratie und Nachhaltigkeit, des nachhaltigen Konsums und der politischen Ökonomie der Nachhaltigkeitsgovernance. Aktuell leitet sie u.a. das von der Europäischen Union geförderte internationale, transdisziplinäre Forschungsprojekt „EU 1.5° Lifestyles“, für dessen Konsortium sie hier berichtet.
20.08.2024
Bildnachweis: Universität Münster
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