Kolumne "Zur Sache"

Pariser Klimaabkommen noch nicht verfehlt – von karibischen Schwämmen und steilen Thesen

Prof. Dr. Jochem Marotzke

Am 5. Februar 2024 sorgte eine Studie in der angesehenen Fachzeitschrift Nature Climate Change für Aufsehen: Eine Untersuchung von Schwämmen aus der Karibik würde belegen, dass die Erderwärmung schon 1,7 °C über dem vorindustriellen Niveau liegen und die Marke von 2 °C noch in diesem Jahrzehnt reißen würde. Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und Vorstandsvorsitzender des DKK, hat sich die Studie kritisch angesehen. Sein Fazit: Es sollte so schnell wie möglich der Mantel des Vergessens darübergelegt werde.

Ein Editorial von Prof. Dr. Jochem Marotzke, Max-Planck-Institut für Meteorologie

Dabei war der Ausgangspunkt der Studie durchaus vielversprechend: Das Team hatte Skelette eines sehr langlebigen Schwamms aus der oberflächennahen Karibik geborgen und konnte aus einem Isotopenverhältnis von Strontium und Calcium auf die Umgebungstemperaturen über die letzten 300 Jahre schließen. So weit, so solide. Dann aber werden Behauptungen über die Implikationen dieser Temperaturabschätzungen aufgestellt, die man nur abenteuerlich nennen kann. Praktisch jedes Hinzuziehen unseres wissenschaftlichen Verständnisses von Klimadynamik strotzt vor Fehlern.


Kern der Arbeit ist der Versuch zu belegen, dass die geschätzte Temperatur an dieser einen Stelle in der Karibik zuverlässig die globale Mitteltemperatur anzeigen würde. Das ist völlig unplausibel. Zudem belegt eine Abbildung in der Arbeit selbst das Gegenteil.  Auch wissen wir seit Langem, dass kleinräumige Temperaturen viel stärker von zufälligen Schwankungen bestimmt sind als die globale Mitteltemperatur. Der herangezogene Beleg in der Arbeit vergleicht Äpfel mit Birnen, nämlich einen räumlich stark geglätteten Trend über 150 Jahren mit dekadischen Schwankungen an einem Ort. Es wäre auch zu schön, um wahr zu sein: Ich kann an einen einzigen Ort der Erde gehen, um von dort ohne weitere Messungen die globale Mitteltemperatur zu bestimmen. Damit wäre auf einen Schlag das Herzstück der messenden Klimatologie obsolet, denn wozu dann noch teure globale Messkampagnen durchführen und Satelliten betreiben, wenn es nur der Analyse karibischer Schwämme bedürfe?


Eine weitere Unstimmigkeit: Der „Nullpunkt“ für die vorindustrielle Temperatur beruht auf der falschen Annahme, im Gleichgewicht müssten Temperaturänderungen über Land und über dem Ozean gleich sein, da der Effekt der höheren Wärmekapazität des Ozeans im Gleichgewicht verschwindet. Letzteres stimmt zwar, aber wir wissen zuverlässig, dass unterschiedliche Rückkopplungen über Land und über dem Ozean zu einer höheren Temperaturänderung über Land auch im Gleichgewicht führt.


Die Liste ließe sich fortsetzen. So wird etwa behauptet, ab 1984 habe sich die Empfindlichkeit der Erwärmung in Bezug auf CO2 halbiert, ohne im Geringsten darauf einzugehen, wie sich dieser Widerspruch zu etablierten Verfahren erklären ließe. Im Widerspruch zu hier selbst gezeigten Daten wird behauptet, die Karibik sei unbeeinflusst von natürlicher Variabilität und würde in reiner Form die Reaktion auf den erhöhten Treibhauseffekt zeigen. Aber der menschgemachte zusätzliche Treibhauseffekt war im 19. Jahrhundert noch so gering, dass er die Temperatur kaum beeinflussen konnte. Die hier für das 19. Jahrhundert geschätzte Erwärmung ist nach eigener Logik viel zu hoch, um mit der postulierten Erklärung vereinbar zu sein.


Es wurde eingewendet, die Studie sei eher von akademischem Interesse, denn es gehe im Wesentlichen um ein Nach-unten-Korrigieren der vorindustriellen Temperatur. Die Diagnose der heutigen Temperatur und der Klimafolgen stehe hingegen gar nicht zur Debatte. Die Pariser Klimaziele sind jedoch wirkmächtige Symbole im öffentlichen Diskurs, und behauptete neue Zahlen werden breit wahrgenommen. Gleiches gilt für angebliche Korrekturen des IPCC, selbst solche ohne belastbare Belege. So sagt die Studie ohne selbstkritisches Hinterfragen, die nächsten Jahre würden sich doppelt so schnell erwärmen wie im 6. IPCC-Bericht 2021 prognostiziert.


Ja, die Erde bewegt sich beunruhigend schnell auf die Temperaturmarken des Pariser Klimaabkommens zu, aber sie hat sie noch nicht gerissen, anders als in dieser Studie behauptet. Als Leser stand ich ratlos davor und fragte mich, wie sie um alles in der Welt den Begutachtungsprozess von Nature Climate Change hatte überstehen können.

Originalveröffentlichung: McCulloch, M. T., A. Winter, C. E. Sherman, and J. A. Trotter, 2024: 300 years of sclerosponge thermometry shows global warming has exceeded 1.5 °C. Nature Climate Change, 14, 171-177, 10.1038/s41558-023-01919-7.

Zum Autor
Prof. Dr. Jochem Marotzke ist DKK-Vorstandsvorsitzender und Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie, wo er die Abteilung „Klimavariabilität“ leitet.

 

01.03.2024

Bildnachweis: Max-Planck-Institut für Meteorologie, David Ausserhofer

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