Die Änderungsgeschwindigkeit des mittleren globalen Meeresspiegels – im Durchschnitt 1,7 ± 0,2 mm pro Jahr für das gesamte 20. Jahrhundert und zwischen 2,8 und 3,6 mm pro Jahr seit 1993 (Kapitel 13) – ist im Kontext von Schwankungen über die Jahrhunderte der letzten zwei Jahrtausende ungewöhnlich. Allerdings sind in der Vergangenheit in Phasen schnellen Abschmelzens von Eisschilden, wie beispielsweise während der Übergänge von Eis- zu Warmzeiten, deutlich höhere Änderungsgeschwindigkeiten des Meeresspiegels aufgetreten. Außergewöhnliche tektonische Effekte können ebenfalls sehr schnelle lokale Meeresspiegeländerungen bedingen, wobei die lokalen Änderungsgeschwindigkeiten die aktuellen globalen Änderungsgeschwindigkeiten übertreffen können.
Unter „Meeresspiegel“ wird oft der Punkt verstanden, wo das Meer auf das Festland trifft. Geowissenschaftler definieren den Meeresspiegel als ein Maß für die Position der Meeresoberfläche im Verhältnis zum Festland, die sich beide relativ zum Mittelpunkt der Erde bewegen können. Ein Maß des Meeresspiegels spiegelt daher eine Kombination geophysikalischer und klimatischer Faktoren wider. Geophysikalische Faktoren, die den Meeresspiegel beeinflussen, sind Landsenkung oder Landhebung und glazial isostatische Ausgleichsbewegungen – die Reaktion des Systems Erde-Ozean auf Veränderungen der Massenverteilung auf der Erde, insbesondere von Meerwasser und Festlandeis.
Klimatische Einflüsse beinhalten Schwankungen der Ozeantemperaturen, die dazu führen, dass das Meerwasser sich ausdehnt oder zusammenzieht, Volumenänderungen von Gletschern und Eisschilden sowie Verlagerungen von Meeresströmungen. Lokale und regionale Veränderungen dieser klimatischen und geophysikalischen Faktoren erzeugen signifikante Abweichungen von der geschätzten mittleren Änderungsgeschwindigkeit des globalen Meeresspiegels. So sinkt beispielsweise der lokale Meeresspiegel entlang der schwedischen Küste (Bottnischer Meerbusen) um annähernd 10 mm pro Jahr, weil sich das Land aufgrund des Abschmelzens von kontinentalem Eis nach der letzten Eiszeit immer noch anhebt. Im Gegensatz dazu stieg der lokale Meeresspiegel südlich von Bangkok von 1960 bis 2005 um ~20 mm pro Jahr, hauptsächlich durch eine Landsenkung aufgrund der Entnahme von Grundwasser.
Seit ~150 Jahren wurde die Meeresspiegeländerung an Gezeitenpegeln und seit ~20 Jahren mit Satellitenaltimetern aufgezeichnet. In dem Zeitraum, wo sie sich überschneiden, stimmen die beiden Datensätze überein. Die global gemittelte Anstiegsgeschwindigkeit des Meeresspiegels von ~1,7 ± 0,2 mm pro Jahr während des 20. Jahrhunderts – und etwa das Doppelte während der letzten zwei Jahrzehnte – mag klein wirken im Vergleich zu Beobachtungen von Wellen- und Gezeitenschwankungen rund um den Globus, die um Größenordnungen größer sein können. Wenn diese Geschwindigkeiten jedoch über lange Zeit andauern, sind die Folgen dieser Größenordnung beträchtlich für stark bevölkerte, tiefliegende Küstenregionen, wo selbst bei geringem Meeresspiegelanstieg große Landflächen überflutet werden können.
Für die Zeit, bevor es Instrumentalmessungen gab, werden lokale Änderungen des Meeresspiegels indirekt über Daten aus sedimentären, fossilen und archäologischen Archiven berechnet. Diese Proxy- Aufzeichnungen sind räumlich begrenzt und spiegeln sowohl lokale als auch globale Bedingungen wider. Allerdings wird die Rekonstruktion eines globalen Signals bestärkt, wenn einzelne Proxy-Aufzeichnungen aus stark unterschiedlichen Umweltbedingungen ein gemeinsames Signal ergeben. Es ist wichtig zu beachten, dass geologische Archive – insbesondere die von vor mehr als etwa 20 000 Jahren – Änderungen des Meeresspiegels meist nur über Zeiträume von Jahrtausenden erfassen. Schätzungen von 100-Jahres-Änderungsraten des Meeresspiegels basieren daher auf Informationen auf der Ebene von Jahrtausenden. Aber es muss berücksichtigt werden, dass solche Daten raschere Änderungsgeschwindigkeiten des Meeresspiegels auf dem Maßstab von Jahrhunderten nicht zwangsläufig ausschließen.
Rekonstruktionen des Meeresspiegels über die letzten zwei Jahrtausende bieten eine Möglichkeit, Proxy-Daten für eine Überschneidung mit den gemessenen Daten zu nutzen und sie darüber hinaus zu verlängern. Ein aktuelles Beispiel stammt aus Ablagerungen in Salzmarschen an der Atlantikküste der Vereinigten Staaten von Amerika. Kombiniert man diese mit Meeresspiegelrekonstruktionen aus Gezeitenpegeln und Modellvorhersagen, belegen sie eine mittlere Änderungsgeschwindigkeit des Meeresspiegels seit dem späten 19. Jahrhundert von 2,1 ± 0,2 mm pro Jahr. Dieser jahrhundertlange Anstieg übersteigt jede andere 100-Jahres-Änderungsrate in der gesamten 2000-jährigen Aufzeichnung für denselben Küstenbereich.
Auf längeren Zeitskalen sind mitunter viel größere Geschwindigkeiten und Amplituden von Meeresspieänderungen aufgetreten. Glazial-/Interglazial Klimazyklen der letzten 500 000 Jahre führten zu globalen Meeresspiegeländerungen von bis zu 120 bis 140 m. Ein Großteil dieser Meeresspiegeländerung trat innerhalb von 10 000 bis 15 000 Jahren während des Übergangs einer Eiszeit in eine Warmzeit auf, mit einem mittleren Anstieg von 10 bis 15 mm pro Jahr. Diese hohen Geschwindigkeiten können nur anhalten, wenn Phasen extremer Vergletscherung zu Ende gehen und große Eisschilde den Ozean erreichen. So zeigen fossile Korallenriffablagerungen, dass während des Übergangs vom Höhepunkt der letzten Eiszeit (vor etwa 21 000 Jahren) zur heutigen Warmzeit (Holozän, die letzten 11 650 Jahre) der globale Meeresspiegel in weniger als 500 Jahren schlagartig um 14 bis 18 m angestiegen ist. Dieses Ereignis ist als Schmelzwasserpuls 1A bekannt, währenddessen die Geschwindigkeit des Meeresspiegelanstiegs mehr als 40 mm pro Jahr erreichte.
Diese Beispiele über längere Zeitskalen zeigen Änderungsgeschwindigkeiten des Meeresspiegels, die größer sind als die heute beobachteten. Es sollte aber bedacht werden, dass sie sich alle unter besonderen Umständen ereignet haben: in Zeiten des Übergangs von einer Eiszeit zu einer Warmzeit; an Orten, an denen die langfristigen Nachwirkungen dieser Übergänge noch immer stattfinden; an Orten mit bedeutenden tektonischen Landhebungen oder in großen Flussdeltas, wo die Bodensenkung aufgrund von Sedimentverdichtung – manchmal durch das Abpumpen von Bodenflüssigkeiten verstärkt – dominiert.
Instrumentelle Messungen und geologische Daten stützen die Schlussfolgerung, dass die aktuelle Änderungsgeschwindigkeit des mittleren globalen Meeresspiegels im Verhältnis zu den beobachteten und/oder geschätzten Änderungen während der letzten zwei Jahrtausende ungewöhnlich ist. In geologischen Aufzeichnungen sind höhere Änderungsgeschwindigkeiten beobachtet worden, besonders während Zeiten des Übergangs von Eis- zu Warmzeiten.
FAQ 5.2, Abbildung 1 | (a) Schätzungen der durchschnittlichen Änderungsrate des mittleren globalen Meeresspiegels (in mm pro Jahr) für fünf ausgewählte Zeitabschnitte: den letzten Eiszeit-Warmzeit-Übergang; Schmelzwasserpuls 1A; die letzten zwei Jahrtausende; das 20. Jahrhundert; das Zeitalter der Satellitenmessungen(1993–2012). Die blauen Säulen bezeichnen die Zeiten des Übergangs von einer Eis- zu einer Warmzeit, wohingegen die orangen Säulen die aktuelle Warmzeit kennzeichnen. Die schwarzen Balken geben die Bandbreite an wahrscheinlichen Werten der mittleren Änderungsgeschwindigkeit des mittleren globalen Meeresspiegels an. Zu beachten sind die insgesamt höheren Änderungsgeschwindigkeiten des mittleren globalen Meeresspiegels typisch für den Übergang zwischen Eis- und Warmzeiten. (b) Detailausschnitt der Änderungsgeschwindigkeit des mittleren globalen Meeresspiegels während drei Zeitabschnitten der heutigen Warmzeit.
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Diese deutsche Übersetzung sollte zitiert werden als:
IPCC 2014: Klimaänderung 2013: Naturwissenschaftliche Grundlagen. Häufig gestellte Fragen und Antworten – Teil des Beitrags der Arbeitsgruppe I zum Fünften Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) [T.F. Stocker, D. Qin, G.-K. Plattner, M. Tignor, S.K. Allen, J. Boschung, A. Nauels, Y. Xia, V. Bex und P.M. Midgley (Hrsg.)]. Deutsche Übersetzung durch die deutsche IPCC-Koordinierungsstelle und Klimabüro für Polargebiete und Meeresspiegelanstieg, Bonn, 2017.